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Abschlussarbeiten im Media Lab | 14.07.2025

Konstruktiver Krisenjournalismus gegen Nachrichtenvermeidung

Eine Fotokamera liegt inmitten von Patronenhülsen und anderen Waffenteilen

Kriege und Krisen überfordern - nicht nur Betroffene, sondern auch jene, die sie täglich über die Nachrichten verfolgen. Zwischen Mitgefühl und Selbstschutz, Scrollen und Wegsehen stellt sich die Frage: Wie berichtet man, ohne zu überfordern? Und was passiert, wenn Journalist:innen Krisen konstruktiv erzählen?

Dass etwas schiefläuft im Umgang mit Krisennachrichten, zeigen die Zahlen: Laut Digital News Report 2024 meiden 39 Prozent der Menschen weltweit regelmäßig Nachrichten – viele, weil sie sich emotional belastet fühlen. Besonders Berichte über Gewalt, Zerstörung und Ohnmacht gehören zu den Inhalten, die schnell zu viel werden. Die Publizistin Samira El Ouassil nennt das bewusste Wegsehen in ihrer SPIEGEL-Kolumne über den Krieg in der Ukraine eine „moralische Kapitulation“ – und warnt vor einer gefährlichen Gleichgültigkeit. Denn wer abschaltet, kann kaum solidarisch bleiben. Und Demokratien, die nicht mehr hinschauen, laufen Gefahr, autoritären Regimen Raum zu lassen.

Grenzen des klassischen Journalismus

Gerade in Kriegs- und Krisenzeiten zeigt sich, wie stark der klassische Nachrichtenjournalismus auf Eskalation fokussiert ist:

Negativitätsbias

Gewalt, Zerstörung, Opferzahlen – alles mit hoher Dringlichkeit formuliert, aber oft ohne Kontext. Diese strukturelle Schlagseite hat einen Namen: Negativitätsbias. Ein bekanntes Phänomen, das dazu führt, dass sich im Nachrichtenkosmos vor allem negative Inhalte durchsetzen – nicht weil sie relevanter sind, sondern weil sie emotional schneller wirken.

Täter-Opfer-Schema

Oft wird dabei in eindeutigen Gegensätzen erzählt: Täter:innen hier, Opfer dort – eine simple Weltordnung, die Orientierung bieten soll, aber differenzierte Perspektiven schnell untergräbt. So entsteht für das Publikum das Gefühl, dass die Welt nur noch aus Gewalt besteht. Oder schlimmer: dass man ohnehin nichts daran ändern kann.

Möglichkeiten des konstruktiven Journalismus

Als Reaktion auf die einseitigen Muster klassischer Berichterstattung hat sich der konstruktive Journalismus entwickelt – ein Ansatz, der nicht beschönigt, sondern erweitert. Konstruktiver Journalismus will Orientierung schaffen, Überforderung reduzieren, zum Mitdenken anregen. Das Constructive Institute des Journalisten Ulrik Haagerup fasst ihn in drei Kernprinzipien zusammen:

  1. Fokus auf Lösungen
  2. Berücksichtigung von Nuancen
  3. Förderung demokratischer Debatten.

– das klingt vielversprechend. Aber lässt sich dieser Ansatz wirklich auf jede Form von Berichterstattung anwenden? Was passiert, wenn es nicht um gesellschaftliche Debatten oder lokale Herausforderungen geht, sondern um schlicht Unfassbares? Um Krieg, Gewalt, Zerstörung? Also genau jene Themen, die Menschen häufiger dazu bringen, sich abzuwenden?

Gerade hier wird es kompliziert. Denn wie soll man einen lösungsorientierten Ansatz verfolgen, wenn es in vielen Krisen schlicht keine Lösung gibt, auf die man verweisen könnte? Zwischen Frontlinien, Fluchtbewegungen und festgefahrenen Verhandlungen wirkt die Frage nach einer „Lösungsperspektive“ eher zynisch. Doch genau das führt zu einer zentralen Überlegung: Kann konstruktiver Journalismus auch dann Wirkung entfalten, wenn er ohne konkrete Lösungsangebote auskommt?

Mein Experiment: Auch ohne Lösung konstruktiv berichten?

Genau das war die Ausgangsfrage meiner Bachelorarbeit. In einem Experiment habe ich getestet, ob konstruktiver Journalismus auch dann Wirkung entfalten kann, wenn man bewusst auf Lösungsangebote verzichtet und sich dennoch auf sachliche Sprache, mehr Kontext und multiperspektivisches Erzählen konzentriert.

Dazu habe ich zwei Versionen eines Artikels über einen realen internationalen Konflikt erstellt: eine klassische Nachrichtenversion (adaptiert aus dem Angebot der Tagesschau) und eine überarbeitete Version im konstruktiven Stil – ohne Lösungsfokus, aber mit zusätzlichen Hintergrundinformationen, die öffentlich zugänglich waren und damit auch der Redaktion der Tagesschau zur Verfügung gestanden hätten, und einer nüchternen, weniger dramatisierenden Sprache.

Für letzteres habe ich auf den SentimentWorschatz (SentiWS) der Univeristät Leipzig zurückgegriffen. Das ist ein lexikalisches Instrument zur Sentimentanalyse deutscher Sprache, das etwa 3.450 Wörtern Konnotationswerte zuweist – also Einschätzungen darüber, ob ein Begriff typischerweise positiv oder negativ emotional aufgeladen ist. Ein Beispiel dafür: Das Wort Krieg etwa hat laut dem SentiWS eine stark negative Konnotation, während das Wort Konflikt lediglich eine leicht negative Färbung trägt. Es macht also einen Unterschied, ob ein Artikel von einem „baldigen Krieg“ oder von einem „schwelenden Konflikt“ spricht. Für mein Experiment wichtig: Die Sprache sollte Distanz und Neutralität ermöglichen, ohne aber Gleichgültigkeit zu fördern

Meine Befragung von 180 Teilnehmenden bestätigte schließlich: Der klassisch formulierte Artikel führte zu deutlich mehr emotionaler Belastung bei den Lesenden. Die konstruktive Version erzeugte hingegen messbar weniger emotionale Belastung bei den Rezipierenden. Die konstruktiv lesende Gruppe fühlte sich aber nicht nur emotional stabiler, sondern auch besser informiert. Die Teilnehmenden äußerten eine größere Bereitschaft, über das Gelesene zu reflektieren und darüber zu sprechen - der Inhalt führte also zur “Förderung demokratischer Debatten”, ganz im Sinne des Constructive Institutes.

Warum wir neue Erzählformen brauchen

Natürlich darf Journalismus Kriegsleid nicht beschönigen oder verschweigen. Aber Informationsvermittlung, die Menschen überfordert und emotional so stark belastet, dass sie lieber wegsehen, verfehlt ihr Ziel. Deshalb braucht es neue Formen des journalistischen Erzählens, besonders in Zeiten globaler Dauerkrisen.

Konstruktiver Journalismus bietet hier eine Möglichkeit, mit dieser Herausforderung umzugehen: nicht als Feel-Good-Journalismus, sondern als Einladung, genauer hinzuschauen. Und dafür braucht es nicht einmal immer Lösungen. Weniger Drama, mehr Einordnung. Weniger Empörung, mehr Perspektive. Damit Nachrichten nicht abschrecken – sondern Menschen als Einflussnehmer dazu befähigen, sich in die Gesellschaft einzubringen.

Malou hat nun das Förderprogramm für Abschlussarbeiten durchlaufen. Du hast auch ein spannendes Thema? Melde dich bei uns!

Ein Artikel von

Marie Louise Henning

Malou Henning studierte Medien und Kommunikation an der Hochschule Ansbach und beschäftigte sich in ihrer Bachelorarbeit mit konstruktivem Journalismus in der Kriegs- und Krisenberichterstattung – einem Feld, das sie schon lange wegen seines gesellschaftlichen Gewichts fasziniert. Heute studiert sie E-Learning im Master und widmet sich der Frage, wie sie Wissen so vermitteln kann, dass es nicht nur verstanden, sondern auch gesellschaftlich wirksam wird.

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