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03. August 2021
Start up Knowledge

Journalismus ist mehr als ein Puzzleteil - wie sieht ein vollständiger Journalismus aus?

Journalismus ist mehr als ein Puzzleteil - wie sieht ein vollständiger Journalismus aus?

Sham Jaff hat eine Mission: Ein vollständiger Journalismus mit Informationen aus der ganzen Welt. Die Grimme-Preisträgerin sieht dafür noch viel Spielraum in der deutschen Medienlandschaft und möchte mit ihrem Newsletter What happened last week ihren Teil dazu beitragen.

Text: Sabrina Harper
Foto: Media Lab Bayern

 

Zugang zu Nachrichteninhalten

Sham Jaff informiert in ihrem wöchentlichen Newsletter What happend last week über aktuelle Themen aus Ländern und Regionen, die es nicht in die deutschen Hauptnachrichten schaffen. Sie möchte mit ihrer Arbeit Zugang zu mehr Nachrichteninhalten ermöglichen und gleichzeitig unterrepräsentierten Menschen eine Plattform geben. Um zu verstehen, warum sie viel Zeit und Leidenschaft in den Newsletter steckt, muss man sich zuerst mit den aktuellen Herausforderungen im Journalismus auseinandersetzen.

Es fehlt an Perspektiven

Diversität ist ein Thema, das Medienhäuser umtreibt. Die Medienlandschaft in Deutschland erkennt nach und nach, dass eine auf Vielfalt ausgelegte Unternehmenskultur Vorteile bringt. Gleichzeitig fällt es den Unternehmen noch schwer, den Begriff Diversität zu fassen. Ein Aspekt ist die Sicht auf die Berichterstattung. „Vielleicht, weil es an Sensibilisierung fehlt oder das Verständnis von objektivem Journalismus verhindert, Personen einen größeren Raum zum Sprechen einzuräumen“, sagt Sham Jaff. Was damit gemeint ist, beschreibt sie am Beispiel des Anschlags von Hanau aus dem Jahr 2020. “In den Interviews in unserem Podcast Ein Jahr nach Hanau mit den Opfern zeigte sich die Diskrepanz zwischen dem Hanau, dass medial verarbeitet wurde und wie die Gesprächspartner:innen im Podcast Hanau empfanden. Aus deren Sicht fehlten einige Puzzleteile, um ein vollständiges Bild zu zeichnen“. Wie wichtig diese offene Form des Journalismus ist, zeigte der Gewinn des Grimme Online Awards für den Podcast 190220 - Ein Jahr nach Hanau. Die Jury lobte die Macher:innen des Podcasts für die neuen Perspektiven der Berichterstattung. Für die Gewinnerin Sham Jaff ist die Auszeichnung eine Ermutigung, ihren Journalismus weiterhin offen zu gestalten.

Sham Jaff

Ist 1989 in Slemani, Kurdistan/Irak geboren. Mit neun Jahren kam sie zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland. Heute arbeitet sie als Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin in Berlin.

Journalismus neu denken?

Journalist:innen stehen in Medienhäusern in einem Spannungsfeld. Als Unternehmen geht es natürlich auch darum Geld zu verdienen, gleichzeitig befindet sich die Branche in einer großen Transformation. Es stellt sich immer die Frage: Kann man eine neue Story bringen ohne zu wissen, ob sie gut ankommen wird oder setzt man doch wie bisher auf erfolgreich getestete Narrative. „Journalist:innen sollten fragen, was fehlt hier und welche weitere Perspektive könnte ich für mich und andere Leute aufdecken“, sagt Sham Jaff. „Es geht im Journalismus nicht darum für Clickbaits zu sorgen, sondern um die Absicht, Personen einen Raum für ihre Erzählung zu geben und das Ganze dann in einen größeren Kontext zu setzen“.

Journalismus, wie man ihn aus Filmen kennt, hat selten etwas mit der Realität zu tun. Das Arbeiten in einer Redaktion ist strukturiert, unterliegt geregelten Prozessen und sollte aus Unternehmenssicht möglichst effizient sein. Denn alle Mitarbeitenden haben, je nach Medium, Zieltermine einzuhalten, wie etwa den Redaktionsschluss.

Beispiele aus Filmen vs. Redaktionsalltag

Film: Viele Menschen in einem Großraumbüro und geschäftiges Treiben
Realität: Eine Handvoll Redakteur:innen kümmern sich um das Tagesgeschäft

Film: Newsreporter:in bekommt einen Geheimtipp, springt ins Auto und ist live on air
Realität: Newsreporter:in schaut im Computer den Nachrichten-Ticker der dpa (Deutsche Presseagentur) durch und sucht sich 5 Top-Meldungen raus

Film: Reporter:in entdeckt in der direkten Nachbarschaft eine große Geschichte, recherchiert investigativ und macht daraus eine Prime Time Sendung oder einen Leitartikel
Realität: Lokaljournalist:in geht zur Pressekonferenz und holt einen O-Ton ein. Der Beitrag darf maximal 2:30 Minuten lang sein und deshalb wird gekürzt

Film: Geschädigte und Opfer werden ausführlich interviewt
Realität: Person aus einer zuständigen Behörde oder eines zuständigen Amtes wird zum Sachverhalt befragt

Objektive Journalist:innen

„Ich bin wegen der romantischen Vorstellung der vierten Gewalt in den Journalismus gegangen und irgendwann ist mir aufgefallen, im Journalismus arbeiten auch nur Menschen und setzen Themen. Wir sind alle geprägt und haben Vorteile, Erwartungen oder Vorstellung von der Welt", sagt Sham Jaff. Hinzu komme die fehlende Diversität. „Viele Journalist:innen sind an bestimmten Institutionen ausgebildet worden, haben einen bestimmten Freundeskreis oder haben eine bestimmte Sprache. Um in den Kreis von Journalist:innen hineinzukommen gibt es viele Wege. Aber nur einen, der sehr anerkannt ist. Bei allen anderen Wegen muss man sich durchrangeln. Einige etablierte Medienhäuser haben mich beispielsweise abgelehnt, weil ich nicht an gewissen Journalistenschulen war“. Durch solche Konstrukte wird, (un-)bewusst, die Homogenität im Journalismus erhalten. Sham Jaff spricht von einer „romantischen Vorstellung“, weil die vierte Gewalt nur besteht, wenn die Gesellschaft darin abgebildet wird. Durch die in ihrem Beispiel genannten Auswahlkriterien beim Personal oder die Abstufung nach Ausbildungswegen wird der Zugang zu den Medien und somit zur vierten Gewalt beschnitten.

Natürlich können alle Journalist:innen über jegliche Personen berichten, das beinhaltet auch marginalisierte Gruppen. Es müsste dabei aber gelingen, jegliche Vorurteile die durch den Werdegang geprägt wurden, auszublenden. „Ich finde es effizienter, wenn man marginalisierte Gruppen fördert und in gewisse Positionen mit einbringt. Es kann auch nicht sein, dass man einer weißen, etablierten Person, die ganze Verantwortung auflädt. Wie soll sie all ihre blinden Flecke sehen, die weder in der Schule noch an der Universität aufgearbeitet wurden? Und die in einem System arbeitet, wo Clickbaiting und Algorithmen die Themen bestimmen?“, erklärt die Grimme-Preisträgerin. Diese blinden Flecken sieht sie übrigens nicht nur im Menschlichen, es gibt auch thematisch blinde Flecken: „Wenn wir über ausländische Themen sprechen geht es überwiegend um transatlantische Beziehungen, Russland und China. Wir lernen die Welt limitiert kennen und denken in Schemata. Wenn ich nach Kurdistan reise, sagen einige wie kannst du dorthin fahren - das ist gefährlich. Es entspricht aber nicht der Realität, dass ganz Kurdistan ein Kriegsgebiet ist, es gibt auch andere Themen dort“.

Themen fallen unter den Tisch

Sham Jaff möchte eine ganzheitliche Berichterstattung liefern. Vor sieben Jahren startete sie den Newsletter What happend last week. Der wöchentlich erscheinender Newsletter, mit Nachrichten aus der ganzen Welt, hat inzwischen 14.000 Abonennt:innen. Darin möchte sie vollständiger über die Welt berichten. „In Nigeria leben beispielsweise mehr als doppelt soviel Menschen als in Deutschland. Dort ist EndSARS ein riesiges Thema und hier in Deutschland finde ich kein Wort dazu in den Hauptnachrichten“. Die #EndSARS-Bewegung protestiert gegen Polizeigewalt und richtet sich insbesondere gegen die Brutalität des Special Anti-Robbery Squad in Nigeria. Die BBC oder die Washington Post schätzen die Vorgänge als historischen Moment und Neustart Nigerias ein. „Ich möchte genau diese unterschiedliche Handhabung von Themen in den Ländern aufbrechen. Ich recherchiere wöchentlich in großen und kleinen Medien aus den jeweiligen Ländern und scanne auch große internationale Nachrichtenseiten und deren Auslandssektionen. Der Newsletter ist ein Vorschlag für meine Leser:innen, welche Themen diese Woche auch relevant waren“.

Auszug aus dem Instagramkanal von What happend last week

Auszug aus dem Instagramkanal von What happend last week

Sham Jaffs Auswahlkriterien sind andere als in den gängigen Medienhäusern. Dabei stehen drei Fragen für sie im Kern:

  • Was interessiert viele Menschen?
  • Was ist global relevant?
  • Was ist unterrepräsentiert und trotzdem unglaublich wichtig?

 

Bisher erstellte Sham Jaff den Newsletter in ihrer Freizeit, und deckte einen Teil der Kosten durch Crowdfunding ab. Im Media Startup Fellowship überlegt sie, wie What happend last week weiterhin einen offenen, unabhängigen Journalismus bereitstellen kann und wie solche Formate auch ohne sie Anklang im Journalismus finden könnten.

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